Wellerfritze
Von Fritz Schulze, Pouch
Eigentlich heißt er Friedrich Müller, aber unter diesem Namen kennt ihn kein Mensch im Bitterfelder oder Delitzscher Kreis, Wellerfritzen aber kennt jedes Kind.
Da kommt er angehumpelt, die birkenumsäumte Straße entlang, den eingedrückten Filz auf dem borstigen Schädel. Ein grünlich schimmernder alter Bratenrock und korkzieherartige, gestickte Hosen umhüllen den mageren Körper, ein bindfadenumschnürtes Bündel baumelt im Takte des humpelnden Wanderers über dem Rücken oder an der tief in der Hosentasche versenkten Hand. Ein astiger Knotenstock unterstützt den schlürfenden Gang.
So geisterte er durch Feld und Wald, zieht Wege und Straßen entlang, bei Tag und bei Nacht, kennt keine Ruhe, wie der ewige Jude Ahasver, die Erde ist sein Bett, der Himmel sein Zelt. Tausende von Kilometern hat er zurückgelegt auf seinen ruhelosen Wanderungen, der einmal aus der Bahn geworfene, ehemalige Schneider aus Pouch. Wovon er lebt ?
Nun, Wellerfritze hat seine Freunde, wo er ohne ein Wort zu sagen, nur durch sein Erscheinen bewirkt, dass ihm Essen und Trinken sowie Kleidung als sein gutes Recht verabfolgt werden. Ist er in seiner Heimat Pouch, so ist sein Lieblingsschlafplatz die Steinstufe zum südlichen Kircheneingang. Sommer und Winter, bei Regen und Kälte hält er hier einige Stunden Nachtruhe. Bei Regenwetter hat er einen vorsintflutlichen Schirm zur Hand, den er dann über sich aufspannt. Ist der Morgen nicht mehr weit, humpelt er einige Erwärmungsrunden durch das Dorf und klopft dann in der Fleischergasse bei Bauer Laurich ans Küchenfenster. Das ist ein alter Freund von ihm, zu dem er Vertrauen hat. Ein großer Topf heißer Kaffee und ein Frühstücksbrot beleben die kalt und steif gewordenen Glieder. Hier hat er auch sein Bekleidungsdepot: Hemden, Unterhosen, Jacken, Hosen uns Schuhe, die er sich auf seine weiten Wanderungen erschnorrt hat, legt er hier zu treuen Händen nieder. Was er braucht, holt er sich nach und nach ab. Und bringt der Winter einmal ganz strengen Frost, dann erst sucht er den warmen Stall auf und taut dort den halberstarrten Körper auf. Nach einigen Wochen Aufenthalt in Pouch und seiner Umgebung packt ihn dann der Wandertrieb und treibt ihn in die Ferne. In seinem schlürfenden Humpelgang zieht er die großen Fernstraßen entlang, erreicht Potsdam, Halle, Zerbst, Magdeburg, ja, bis in den Harz treibt ihn sein unruhiges Blut. Eines Tages aber ist er wieder da, und der Kirchhof in Pouch hat seinen alten Schlafgast und der Bauer Laurich seinen ungeladenen Frühstücksbesuch wieder. An einem Pfingstmorgen treffe ich ihn vor dem Dorfe auf der Straße. Auf meine Anrede hin bleibt er stehen, und ich kann ihn genauer betrachten. "Mein Gott, wie siehst Du aus, Fritze?", sage ich. Er antwortet: "Ich habe mich `n Bart abjenomm`n." Na, das sah man, aber wie! Das Gesicht war eine einzige Wunde, durch die ab und zu Bartstoppeln, lang wie Igelstacheln, in die Luft stachen. Das mag eine Pferdekur gewesen sein, die auch nur ein Wellerfritze auszuhalten vermag. Die wimpernlosen, entzündeten Augen hielt er blinzelnd fast geschlossen und meinte: "De Oogen wärn ooch immer schlechter." Und indem er auf eine mit Wasser gefüllte Seltersflasche wies, die aus der Rocktasche hervorguckte, sagte er :"Da is Wasser aus de Bach drinne, das is jut für de Oogen, da wasch ich se immer mit." Eine Zigarre, die ich ihm anbot, biß er halb durch und schob die eine Hälfte zwischen die Zähne die andere in die Rocktasche, dann ging er brummelnd ab. Zweimal musste er fast mit Gewalt ins Krankenhaus gebracht werden. Er hatte sich die Zehen erfroren und hatte auch sonst eine Generalreinigung nötig. Aber da gefiel es ihm gar nicht. Ins Bett kriegten sie ihn nicht, ruhelos wanderte er durch die Säle. Und niemand war froher als Wellerfritze, als die Befreiungsstunde schlug, und ihm wieder Erdgeruch und Wind um die Nase wehten. Er sagte dann später einmal: "Bei die is nischt los, die könn`n ihre Mährde um ihr Schlangenfett selewer fressen." Seitdem "Fritze" Krankenhausluft geatmet hatte, war er dann gesundheitlich nicht mehr ganz auf der Höhe. Einmal war der Atem zu kurz ein anderes Mal waren die Augen fast zu und ein drittes Mal plagten ihn Husten und "Reißmatißmich". Im Dezember 1934 griff die Behörde ein, und ein Wachtmeister brachte ihn mit Hilfe unzähliger Kriegslisten in die Landespflegeanstalt Schönebeck bei Magdeburg. Den Winter durch hielt er es ganz gut aus, als aber der Frühjahrswind über die Felder wehte, fasste er ihn mit Macht. Er nahm kurzerhand Reißaus, lief und humpelte, die Lungen voll frische Freiheitsluft saugend, bis in seine Heimat Pouch, wo er sofort seine alte Lebensart wieder aufnahm. Und es hieß: "Wellerfritze is wedder da!", und man freute sich allerseits, den alten, vertrauten Vagabunden wieder im Lande zu haben. Doch wen die Behörden einmal in ihren Fingern haben, den vergessen sie so leicht nicht wieder. So erinnert man sich nach langer Zeit doch des alten, noch umherstreunenden Wellerfritzen. Ein Wachtmeister griff ihn auf und mit Hilfe aller möglichen Teufelskünste gelang es dem Gesetzesvertreter, "Fritzen" freiwillig, ohne Anwendung von Gewalt, zurück in die Landespflegeanstalt zu bringen. Dort lebte er als unruhiger, ewig nörgelnder Queruland, der nie vergessen kann, dass man ihm seine Freiheit nahm. Ein altes Original verschwand aus dem Kreis Bitterfeld.